Schwierige Zeiten

Andreas H. Buchwald, 15. August 2020

Schwierige Zeiten - draußen bleiben

Wie jeden Morgen stand Vinzenz Hofer auch an diesem Montag hinter der Ladenkasse seines kleinen Lebensmittelgeschäfts. Es waren schwierige Zeiten, und er war froh, daß sein Laden noch immer recht gut ging. Einesteils mußten die Leute essen und trinken, und zum anderen hoffte er, durch alle Schwierigkeiten gut hindurchzukommen, indem er sich anpaßte. Nicht auffallen und nicht allzuviel fragen, war seine Devise, und bislang war alles gut gegangen.
Heute aber trat ein Mann in den Laden, der seinen Atem kurz innehalten ließ. Obwohl er den Kunden seit langem kannte, sah er nur zu deutlich das Zeichen, welches ihn auf der Stelle disqualifizierte. Wußte dieser Mensch vielleicht gar nichts von der Bestimmung, die schwarz auf weiß klar besagte, daß Leute wie er…
„Ich möchte fünf Brötchen“, sagte der Freche, nachdem er kurz gegrüßt hatte, „und ein Stück Butter.“
„Können solche wie Sie überhaupt hier einkaufen?“, ließ sich plötzlich eine Frau vernehmen, die nach ihm eingetreten war. „Haben sich etwa die Bestimmungen geändert?“
„Die Dame hat Recht“, gab Vinzenz Hofer zu und hielt in seiner Bewegung, mit der er drauf und dran gewesen war, den „Unwürdigen“ zu bedienen, inne. „Ich darf Sie nicht bedienen, notfalls vielleicht draußen, wenn alle anderen fertig sind.“
„Sie dürfen mich nicht abweisen“, behauptete der fragwürdige Kunde seinerseits. „Es ist Ihre Aufgabe, die Versorgung der Bevölkerung …“
„Ich muß mich an die Bestimmungen halten“, erklärte Vinzenz, der sich einigermaßen in der Klemme fühlte, bedauernd. „Und die besagen …“
„… daß einer wie Sie eben nicht hier einkaufen darf“, vollendete die Frau seinen Satz, da er eine kurze Atempause gemacht hatte.
„Sagen Sie, was Sie wollen, und ich bringe es Ihnen nach draußen, jetzt gleich“, versuchte Vinzenz, der jeglichen Ärger vermeiden wollte, einzulenken, und zwinkerte dem Mann verschwörerisch zu. „Wir kriegen das schon hin. Aber insgesamt dürfen Sie hier nicht mehr kaufen.“
Der Kunde warf der Frau einen mißtrauischen Blick zu, zeigte sich aber bereit, den Kompromiß anzunehmen. Und Vinzenz war vorläufig erleichtert, die Sache so hinbiegen zu können.
„Sie sind ja von hier, ich weiß“, sagte er draußen zu dem Mann, nachdem er das Geschäft abgewickelt hatte, obwohl die Blicke jener resoluten Dame ihm signalisiert hatten, daß sie diese Lösung keinesfalls billigte und lieber darauf bestanden hätte, den unbotmäßigen Kunden davonzujagen. „Wenn sie aber noch einmal kommen wollen, müssen sie mir zweifelsfrei nachweisen, daß …“
„Ich muß gar nichts“, murmelte der Mann. „Ich bin, wie ich bin, und das ist mein Recht.“
Vinzenz Hofer zuckte zusammen und sagte nichts mehr. Stattdessen beeilte er sich, wieder seinen sicheren Platz hinter der Ladentheke einzunehmen.
„Alle kennen die Bestimmungen, aber solche Leute kommen trotzdem“, schimpfte die Frau wütend. „Dreckskerle sind das, Abschaum!“
„Sie müssen meine Lage verstehen.“ Vinzenz hoffte, daß sie sein Verhalten entschuldigte. „Es sind schwierige Zeiten. Draußen steht ausdrücklich dran, daß Leute wie er nicht bedient werden, und er besteht trotzdem darauf. Was soll ich machen?“
„In Ihrer Haut möchte ich nicht stecken.“ Die Stimmung der Frau stellte sich auf Bedauern um. „Sie haben es wahrlich nicht leicht!“
Nachdem sie gegangen war, fiel sein Blick auf den Kalender. Es war Montag, der 10. August 2020. 1933 wäre es ein Donnerstag gewesen, aber das war auch der einzige Unterschied. Alle schwierigen Zeiten haben ihre Juden.

Bild: ©Sonja Calovini - stock.adobe.com


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