Die dunkle und die helle Seite: Stillstand

Andreas H. Buchwald, 24. April 2020

Kaum einer nennt es noch so. Wir sagen „Shutdown“ (Computersprache für „Herunterfahren“) oder, wenn es eine Weile anhält und verschärft wird, „Lockdown“. Die englischen Bezeichnungen haben wir uns angewöhnt, teils weil wir bequem einer Hauptströmung (einem „Mainstream“) folgen, teils, weil wir sie dann nicht so nahe an uns heranlassen müssen. Muttersprache sitzt unmittelbar im Herzen und geht von dort aus. Wenn wir sie benutzten, könnten wir schneller verstehen.

Ein Stillstand ist eine gewaltige Chance. Es ist in den meisten Fällen das Hamsterrad, welches anhält und für eine Weile still steht. Ich kann aufatmen, die gewohnte Hektik greift nicht mehr, sitzt mir nicht länger im Nacken. Plötzlich habe ich viel Zeit. Zeit, das Gewesene zu überdenken und Bilanz zu ziehen, Zeit erst recht, mich für neue Wege zu öffnen, Zukunft neu zu gestalten. Vorläufig vielleicht nur visionär, doch je klarer, desto besser. Alles das kann ich obendrein langsam angehen. Keiner drängt mich. Ich gehe nach draußen in die Natur und merke auf einmal, daß ich sie kaum kenne, daß sie bislang nur eine Kulisse bildete für ein Scheinleben, dessen Aufmerksamkeit vom Druck des Geldverdienenwollens und -müssens besetzt war. Es hatte mehr oder weniger nur in meinem Kopf stattgefunden, nun aber – nehme ich plötzlich wahr: rieche, schmecke, fühle. Höre mehr und überhöre weniger. Sehe mehr und übersehe weniger. Ich werde mir meines Seins bewußt. Der Himmel ist tiefblau, die Atemluft enthält Frühling. Der Staub des Weges unter meinen Schuhen knirscht, bis ich sie ausziehe und barfuß auf der Wiese weitergehe. Ein Wahnsinnsgefühl! Ich genieße. Am Ufer eines Sees bleibe ich stehen und lausche dem Zwitschern der Vögel. In den Morgenstunden sind sie noch laut und klingen geradezu fröhlich. Während der Tage, an denen ich frühmorgens ins Auto stieg, um an meine Arbeitsstelle zu gelangen, fielen sie mir nie auf. Wohl habe ich sie gehört, aber nicht so … unmittelbar, nicht so lebendig. Kraft spüre ich zu mir zurückkehren, mehr Gesundheit als je vorher, den Drang, etwas zu tun. Etwas, das mir wirklich Freude macht, mich begeistert. Könnte ich eines meiner Hobbys zum Beruf machen, wenn der Stillstand beendet und Zukunft wieder möglich ist? Wer möchte ich dann sein? Dann gibt es noch meine Frau und die fast erwachsenen Kinder. Wir hatten einander nur noch wenig zu sagen in letzter Zeit. Ich stelle mir einen Neuanfang vor, intensiv, so lebendig wie das Zwitschern der Vögel. Wie ich mich fühle, werde ich ihr endlich sagen, und wie ich leben möchte auch. Der Kribbel von einst könnte wiederkehren, das Lachen und die Begeisterung auch. Ohne die Tretmühle von sinnentleerter Lohnarbeit und konventionsbestimmter Haushaltsführung ist unglaublich viel mehr möglich. Unsere Kinder sind bereit für ihre eigenen Wege. Wenn wir uns auf uns selbst besinnen, ist das die beste Starthilfe für sie. Loslassen und offen für Neues sein, auf allen Gebieten. Dank dieses Stillstands, dieses „Weltendes“. Die alte Welt, die des Druckes, des Jagens und Hetzens, die braucht nicht wiederzukehren. Die neue aber, die ich mir soeben vorgestellt habe, die will ich wirklich.

Es ist schlichtweg furchtbar, nicht mehr so weitermachen zu dürfen wie bisher. Meine Arbeit ist doch mein Lebenssinn, und ein bißchen Kleingeld brauche ich ja auch. Vom Herumsitzen zu Hause muß jeder die Meise kriegen. Das ist nicht normal, nicht gesund, das ist die pure Unterdrückung! Was soll man tun? Den ganzen Tag über in die Glotze starren? Oder mit der Frau, mit der man kaum viel zu reden weiß, Rommé spielen? Früher hatten wir wenigstens noch Spaß ab und zu, Sex mehrmals pro Woche. Konnte ja nicht so bleiben, seitdem die Kinder da waren. Und die maulen auch. Ja, gut, ich könnte etwas mit ihnen spielen, aber was? Das einzige, woran ich mich erinnere, ist Monopoly. Man kann eine Menge Zeit damit totschlagen. Ein paar Stunden Glotze bleiben wahrscheinlich, so oder so. Aber was die zu bieten haben, geht mir mörderlich auf den Geist, in diesen Tagen ganz besonders. – Draußen ist das Wetter schön. Schade, daß wir keinen Hund haben, da gäbe es wenigstens einen Vorwand, um ein Stück spazieren zu gehen. Aber so? Zwei meiner Nachbarn können mich nicht leiden; wenn die denken, daß ich ohne Grund raus gehe, rufen sie vielleicht bei der Polizei an. Kein Mensch weiß mehr genau, was wirklich verboten und was erlaubt ist. Notfalls kann ich mir zwar so ein Sch...ding vor Mund und Nase hängen, aber ich habe auch keine Lust, mich zum Affen zu machen. Erst wenn sie es alle tun … – Was soll nun werden? Was machen sie mit diesem Land? Was haben wir falsch gemacht, daß es uns plötzlich so geht? Nicht auszudenken, daß mein Kollege am Ende Recht hätte … Jetzt sehe ich ihn ja vorläufig nicht mehr, wir sind bei der Seilbahn beschäftigt, er oben und ich unten. Die Seilbahnen haben schon lange geschlossen. Er ist ein Verrückter, und glücklicherweise hatten wir nie viel Zeit zum Reden. In letzter Zeit haben mich seine dämlichen Thesen mächtig genervt. Sie hätten das alles geplant, sagt er, wollten uns mürbe machen, damit wir ihre Impf- und Diktaturpläne akzeptieren. Er kommt aus dem Osten, hat dieses Regierungstrauma, daß er eben weder dem Fernsehen traut noch denen, die er selber ja wählen darf. Aber wem kann man denn sonst trauen? Wir haben siebzig Jahre Demokratie, und er hatte auch schon dreißig davon Zeit, ein bißchen dazuzulernen. Was das überhaupt ist, Demokratie. Er hat immer behauptet, so was gäbe es nicht, sie würden uns nur täuschen. Wenn ich gewußt hätte, daß es mal so kommt! Daß sie die Leute plötzlich zu Hause einsperren!? Es kann eigentlich gar nicht sein, und doch ist es so. Am Anfang dachte ich noch, daß es schnell vorbeigeht. Aber nun sind Wochen vergangen, und ich drehe bald durch! Soll ich etwa bis in den Herbst hier rumsitzen? Sie lassen einen ja nicht mal ein paar Besuchstouren machen, von Urlaub zu schweigen! Erst wenn sie ihren Impfstoff haben, wollen sie uns freilassen, zurück in die „Normalität“. Hallo? Dürfen sie das überhaupt mit mir machen? Mich hier festhalten, bis ich mich impfen lasse? Wer weiß, was dann drin ist in der Sch..., die sie mir dann injizieren? Das Seilbahnunternehmen wird garantiert erst mal pleite sein. Die ganze Wirtschaft wird kaputt sein, wahrscheinlich so ungefähr wie nach dem Krieg, vielleicht schlimmer. Ich werde wahnsinnig, wenn die Gedanken kommen, ich drehe durch! Es ist die reinste Hölle …

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